In Deutschland ist kaum eine Landschaft von Menschenhand unberührt: Abgesehen von einzelnen Bannwäldern oder beispielsweise den Naturdynamikzonen im Nationalpark Harz ist die gesamte Fläche unserer Heimat vom Menschen kultiviert. Wir haben die Natur gebändigt, ihr unsere Formen auferlegt, Läufe verschoben und begradigt; wir haben sie uns nutzbar gemacht. Es verwundert daher nicht, daß zu Beginn des neuen Jahrtausends eine lebhafte Diskussion darüber entbrannte und immer noch andauert, ob nicht eine neue geochronologische Epoche angebrochen sei: das Anthropozän – das Zeitalter, in dem der Mensch das System »Erde« intendiert beeinflußt und maßgeblich verändert.[1]
Ganz neu sind die Beobachtungen des menschlichen Wirkens in diesem Kontext jedoch nicht. Bereits 1778 konstatierte der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon: »Die gesamte Erdoberfläche trägt heute den Abdruck der Macht des Menschen.«[2] Und der Architekt und Heimatschützer Paul Schultze-Naumburg widmete der menschlichen Nutzbarmachung der Natur mit drei Bänden, überschrieben mit Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen, einen hervorgehobenen Platz in seinen Kulturarbeiten.[3]
Naumburg war es mit seinen Arbeiten daran gelegen, »die Tätigkeit des Menschen an der Umgestaltung der Erdoberfläche auf ihre wirtschaftlichen und allgemeinen ethischen Werte zu untersuchen«[4] – ein Anliegen, das nicht nur der hiermit beginnenden Artikelreihe der »Landschaftsarbeiten« zugrunde liegt, sondern einen wesentlichen Pfeiler der Zeitschrift Die Kehre überhaupt ausmacht. Unterzieht man die »Umgestaltung der Erdoberfläche« einem akribischeren Blick, so wird man recht schnell gewahr, daß speziell zur Energiegewinnung unnachgiebig in die Ökosysteme eingegriffen wird.
Zur Förderung der Treib- und Schmierstoffe der modernen Gesellschaften Öl, Gas, Kohle und Uran werden keine Kosten und Mühen gescheut und es scheint, als ob kein ökologischer Preis, der für die Gewinnung der fossilen Energieträger entrichtet werden muß, zu hoch wäre. Minen und Tagebau schneiden klaffende Wunden in den Boden, Ölfelder ersticken ganze Landstriche in ihrem schwarzen Morast und beim Uranbergbau bleiben insbesondere in den Absetzbecken radioaktive Rückstände zurück. Ob sich die Abbaugebiete auf heiligem Grund befinden, ist – ebenso wie die ökologischen Negativfolgen – für die energiehungrige Moderne von nachrangiger Bedeutung: In den 1950er Jahren wurde beispielsweise in den Black Hills in South Dakota (USA) Uran gefördert – daß die Sioux-Indianer die Berge als heilig erachten, interessierte dabei niemanden.
Bis heute sind die Minen nicht gereinigt worden und dementsprechend kontaminiert. Doch auch die erneuerbaren Energieerzeuger hinterlassen ihre Spuren in der Landschaft; entweder unmittelbar über Stauseen, gigantische Laufwasserkraftwerke, Wind- und Photovoltaikparks oder aber indirekt über den Abbau für sie essentieller Metalle wie Lithium oder Seltener Erden. Eine Fahrt durch Ostfriesland mit anschließendem Grenzübertritt in die Niederlande führt den Fortschritt der Landschaftszerrüttung auf deutschem Boden qua erneuerbarer Energieerzeugung nachdrücklich vor Augen: Während auf deutscher Seite das Windrad den Horizont dominiert und mit seinen Schaufeln unruhig durchrädert, lichtet sich das Blickfeld augenblicklich, sobald man die Niederlande betritt.
Der Rückgewinn der Weite ist das zuerst Wahrnehmbare; eine positive Leere ersetzt die stählerne Verrümpelung. Danach macht sich Ruhe breit: kein ständiges Drehen von Rotoren, kein hektisches Blinken der Warnleuchten für den Flugverkehr. Zwar steht auch in Holland das ein oder andere Windrad, aber im Vergleich zu Deutschland – speziell das von Windkraftanlagen restlos besetzte Ostfriesland – ist ihre Präsenz marginal, zumindest in der Provinz Groningen. Die ostfriesische Verspargelung der Natur ist indes auch ein in Sachsen-Anhalt um sich greifendes Phänomen. Die Abbildung 1 zeigt dies in aller Deutlichkeit: zu sehen ist die Stadt Naumburg an der Saale, UNESCO-Weltkulturerbe, aus westlicher Perspektive. Die östliche Hügelkette ist gespickt von Windkraftanlagen, die das harmonische Landschaftsbild maximal zerrütten.
Es zeigt sich eine bedrohliche Kulisse, ein Industrieaufmarsch am Horizont. Der Harmoniebruch wird noch einmal dadurch verstärkt, daß sich der östlich von Gröbitz und um die A9 erstreckende Windpark im für die Energieerzeugung besten Fall in ständiger Bewegung befindet. Auf eine sich während des 19. Jahrhunderts zuspitzende Industrialisierung rückblickend, konstatierte Schultze-Naumburg in seinen Kulturarbeiten 1916: »Die Industrie nahm ganze Länder in Beschlag und trug keinen anderen Gedanken, als nur in möglichst kurzer Zeit möglichst viel finanzielle Werte herauszuholen. Für das, was ohne Not und gedankenlos zerstört wurde, war kein Verlustkonto angelegt, und an die Möglichkeit, auch die Industrieanlage schön und harmonisch zu gestalten, dachte man nicht.«[5]
Ebenjenes von Schultze-Naumburg beschriebene Prinzip setzt sich in der Art und Weise, wie die Windkraftanlagen anläßlich der Energiewende ins Land gesetzt werden, nahtlos fort und hält mittlerweile die Heimatregion des Kulturkritikers nicht nur geistig, sondern auch visuell fest im Griff. Zur Windkraft gesellt sich ferner die Photovoltaik, die zwar – weniger invasiv – nicht den Horizont durchpflügt, aber dennoch ihre Spuren in der Landschaft hinterläßt. Im Raum Halle/Naumburg findet man eine beträchtliche Anzahl von Solarparks vor: auf Feldern, auf Industrie- und Gewerbeflächen sowie geeigneten Dächern.
Einer davon steht nördlich von Halle zwischen den Dörfern Neutz und Nauendorf. Wie auf der Abbildung 2 zu sehen, zwängt sich der Solarpark zwischen Baumreihe und Feld und schafft somit eine Barriere, die mit seiner Umzäunung endgültig gezogen wird. Verstärkt wird die Industrialisierung der Landschaft um die beiden sachsen-anhaltischen Dörfer durch die in direkter Nachbarschaft stehenden Windkraftanlagen. Nichtsdestotrotz wird in dem Nebeneinander der beiden Erzeuger erneuerbarer Energien ein Vorteil der Photovoltaik gegenüber der Windkraft offensichtlich: Es fehlt bei ihr der Faktor Unruhe (Bewegung, Schattenwurf und Warnlichter). Eine Solarzelle steht statisch bzw. wenn sie sich als mobilere Version nach der Laufbahn der Sonne richtet, vollzieht sie diese Bewegung erheblich langsamer als bei den hyperaktiven Rotoren der Windräder.
Außerdem ragt sie nicht wolkenkratzerartig in den Himmel und solange man nicht ganze Hügelketten großflächig mit ihr pflastert, ist ihre optische Disruption geringer. Ferner läßt sie sich in die menschliche Architektur integrieren und sorgt dabei nicht für eine der Windkraft vergleichbare Einbuße an Lebensqualität. Aus diesen Gründen ist in letzter Zeit eine Renaissance der Solarkraft in der öffentlichen Diskussion merklich spürbar, da die Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber diesem Energieerzeuger deutlich höher als bei der Windkraft ausfällt.Dabei ist anzumerken, daß die Photovoltaik im Raum Halle (Saale) meistens auf Flächen steht, die durch die intensive Landwirtschaft bzw. die sozialistische LPG-Wirtschaft der DDR bereits »verödet« wurde.
Das System »monokultureller Großacker« ist von der kapitalistischen Landwirtschaftslogik der BRD nahtlos geschluckt und in die eigene Funktionsweise eingepaßt worden. Dadurch zieht sich von Magdeburg bis Leipzig ein Streifen der Eintönigkeit, in dem Solarfelder beinahe schon als willkommene Abwechslung dem Auge schmeicheln. In diesem Zusammenhang kann kaum noch von einer Kultur-, sondern muß von einer Industrielandschaft gesprochen werden, deren Tristesse sich durch die Kombination aus Windkraftanlage, Solarzelle und trostlosem Monofeld noch steigert. Stünde die Photovoltaik im Süden Sachsen-Anhalts in einer intakten Kulturlandschaft aus Hecken und kleinen Feldern, würde sich ihr die Harmonie des Landschaftsbilds zerstörender Charakter signifikant erhöhen.
Gegenüber den Erneuerbaren – die Wasserkraft einmal ausgenommen – wirken die Zeugnisse konventioneller Energieerzeugung massiger und konzentrierter. Das mag auch daher rühren, daß die von ihr verwendeten fossilen Brennstoffe die Energie verdichtet und akkumuliert in sich tragen, während die Diffusität von Wind- und Sonnenergie auf die Gestalt und Verortung ihrer technischen Gewinnungsinstrumente überspringt: Die Erneuerbaren streuen sich über das Land, die Konventionellen ballen sich. Eines dieser lebenswichtigen Herzen der Industriegesellschaft ist das Uniper-Braunkohlekraftwerk in Schkopau, südlich von Halle (Saale). Das 1995 erbaute Kraftwerk ragt dank seiner hohen Türme, des Kamins und der daraus entweichenden Dämpfe weit sichtbar aus der flachen Ebene um die Saaleauen heraus. Steuert man Halle von Süden her an, ist es eine charakteristische Landmarke, die die baldige Ankunft in der Händelstadt signalisiert.
Eingebettet in den Dow Olefinverbund-Chemiepark, auf dessen Gelände Kunststoffe produziert werden, verstärkt sich der industrielle Charakter und in der auf Abbildung 3 eingefangenen Szenerie aus einer den Nebel durchbrechenden Sonne kommt die dementsprechende Prägung der Landschaft durch Kraftwerk und Chemieindustrie zur vollen Geltung: technisierend, gewaltig, rauchend, eintrübend. In diesem Bild wird darüber hinaus augenscheinlich, wie die Stromtrassen die nähere Kraftwerksumgebung durchziehen. Abbildung 4 bebildert eindrücklich, wie sehr die Sicht von Kabeln und Stahlgerüsten verstellt ist, wobei sich das Bedrängende noch einmal durch die Windräder im Hintergrund intensiviert.
Halle (Saale) ist vollends eingekreist von einem Instrumentarium an Energieproduzenten – der unbändige Energiehunger von Stadt und angrenzenden Gemeinden will gestillt werden und erdrückt die Natur. Egal ob Erneuerbare oder Konventionelle, sie alle haben weitreichende Umweltwirkungen und Landschaftsverheerungen gemein: die einen reißen Schneisen, die anderen durchflackern die Nacht und wieder andere durchwühlen und kontaminieren den Boden – jede Art der Energieerzeugung auf ihre eigene Weise. Jedoch verstärken die Erneuerbaren das Unentrinnbare. Konnte man vor der »Energiewende« noch in Rückzugsorte flüchten, fällt es zunehmend schwer, in Deutschland weiterhin Kulturlandschaften vorzufinden, in denen kein Windrad oder Solarpark seine Arbeit verrichtet. Die verzweifelte Flucht nach vorne, mit den Erneuerbaren unsere »warme« Hochenergiegesellschaft aus der ökologischen Krise zu führen, hat uns nun endgültig in eine Techniklandschaft katapultiert, die keinen Raum mehr zum freien Atmen läßt.
[1] vgl. Titz, Sven: Ein gut gemeinter Mahnruf, in: Neue Zürcher Zeitung, 4. November 2016, https://www.nzz.ch/wissenschaft/klima/ausrufung-des-anthropozaens-ein-gut-gemeinter-mahnruf-ld.126251, Zugriff am 19.Feburar 2020
[2] Ebd.
[3] Naumburg-Schultze, Paul (1916-1917): Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen (= Kulturarbeiten, Bd. 7-9), München (Georg D.W. Callwey im Kunstwart-Verlag)
[4] Naumburg-Schultze, Paul (1917): Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen, in: Der Kunstwart, Jg. 30 (13), S. 12-18, hier: S. 18
[5] Schultze-Naumburg, Paul (1916): Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen (= Kulturarbeiten, Bd. 7), München (Georg D.W. Callwey im Kunstwart-Verlag), S. 21