Ein Mann ist tot. Einfach nur ein Mann? Er war hochbegabtes Wunderkind und introvertierter Eigenbrötler, promovierter Mathematiker und dreifacher Mörder in einer Person, Zielperson des bis dahin größten polizeilichen Ermittlungsaufwands in der US-Geschichte – Theodore »Ted« John Kaczynski, weltweit besser bekannt unter seinem medialen Spitznamen »Unabomber«.

2022

Sehr geehrter Herr XXXXXX, […] Sie schlossen Ihren letzten Brief mit den Worten: ›Werden Sie bald wieder gesund. Es gibt noch zu tun.‹ Sie haben recht. Es gibt zu tun. Es gibt eine Menge zu tun. Tatsächlich wurde bislang kaum damit angefangen. Aber ich werde nicht viel dazu beitragen können. Ich werde nicht ›bald wieder gesund‹ werden – oder jemals wieder –, denn ich bin unheilbar an Krebs erkrankt. Ich kann nicht damit rechnen, noch länger als höchstens zwei Jahre zu leben, und es kann gut sein, daß ich in weniger als einem Jahr tot bin, also werden sich jüngere Leute dieser Aufgabe annehmen müssen. Wie steht es mit Ihnen? Was tun Sie?

Photos eines englischsprachigen Briefs dieses Inhalts wurden Anfang Februar 2022 online verbreitet. Sein Verfasser, der mit »Für die wilde Natur, mit freundlichen Grüßen …« schloß, sollte Kaczynski persönlich sein. Sicher ist, daß er kaum zu einem besseren Zeitpunkt in Umlauf kommen konnte. Denn das Jahr 2022, in dem Kaczynski seinen 80. Geburtstag feiern konnte, hat eine immense Verwertung des beinahe zwei Jahrzehnte lang erfolglos gesuchten Briefbombers gesehen.

Von Juni bis August erschien der (durchaus empfehlenswerte) Apple-Original-Podcast Project UNABOM; seit dem 18. Februar ist der alternativ produzierte Spielfilm Ted K im internationalen Verleih, der bei seiner Erstaufführung zur – virtuellen – Berlinale 2021 für erhebliche Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Handelte es sich bei Kaczynski also nur um einen x-beliebigen »extremistische[n] Waldschrat« (Martin Lichtmesz)? Markiert man sich mit einem Bezug auf den Mann, dessen Phantombild mit Sonnenbrille und Kapuze ikonisch für militante Systemfeindlichkeit geworden ist, als Ziel in einer Zeit, in der hasenfüßig von einer »Grünen Armee Fraktion« geraunt wird?

Mann, Werk, Mythos

Psychologisierende Darstellungen von Kaczynskis Kindheit, seiner Studienzeit inklusive psychologischer Belastungsexperimente sowie seines »Ausstiegs aus der Zivilisation« gibt es zuhauf; Blicke auf sein theoretisches Werk sind hingegen rar. 27 Jahre nach der Veröffentlichung des »Unabomber-Manifests« Industrial Society and Its Future (ISAIF) in der Washington Post liegen erheblich mehr Schriften Kaczynskis vor, dessen Erweckungslektüre das 1954 veröffentlichte La technique ou l’enjeu du siècle (»Die Technik, oder: Die Herausforderung des Jahrhunderts«) des Soziologen Jacques Ellul war, ins Englische übersetzt 1964 als The Technological Society.

Diese Texte wurden im Verlauf der 23jährigen Isolationshaft im Höchstsicherheitsgefängnis ADMAX Florence verfaßt, wo Kaczynski im »Bomber Row« u.a. mit Timothy McVeigh sowie dem WTC-Attentäter Ramzi Yousef untergebracht war. (Während der täglichen 30 Minuten »Hofgang« in einer Art Betonbecken fanden sich die drei gelegentlich zusammen, um über Politik zu diskutieren – und Yousef versuchte erfolglos, seine Knastbrüder zum Islam zu konvertieren, während McVeigh die Lektüre des Aussteigerbuchs Into the Wild empfahl.) Die erste Textauswahl The Road to Revolution erschien 2008 in der Schweiz; bereits damals beteiligt war der Philosophiedozent David Skrbina, Gründer eines Anti-Tech Collective. Wesentlich auf seiner Arbeit fußt die heute maßgebliche Edition des Gesamtwerks, die auf bislang zwei Säulen ruht: dem Sammelband Technological Slavery sowie der Programmschrift Anti-Tech Revolution. Sie machen es möglich, das dahinterstehende Denken zu erfassen.

Zwar haben die ikonisch gewordenen ersten Worte von ISAIF ihren Weg in die amerikanische Popkultur gefunden und werden regelmäßig aufs Neue bemüht, um gewisse Themen zu garnieren und in einer bestimmten Weise zu »framen« – insbesondere dann, wenn es um Versuche autarken Lebens am Rande oder außerhalb der Zivilisation geht. Diese Popularität zeugt jedoch davon, daß ISAIF als kulturelles Artefakt – wie so vieles – längst von seinem eigentlichen Inhalt entkoppelt wurde, von sowohl vorgeblichen Verehrern wie auch hysterischen Verurteilern, die beide allerlei über die Thesen Kaczynskis annehmen, aber nur sehr wenig darüber wissen und noch weniger geistig nachvollzogen haben (wobei man hierzu fairerweise anmerken muß, daß laut Kaczynski die erste gedruckte Fassung des »Manifests«, auf der die internationalen Übersetzungen beinahe ausnahmslos beruhen, etliche grobe, teils sinnentstellende Übertragungsfehler vom maschinengeschriebenen Manuskript enthalten soll).

Herausragendes Beispiel für eine solche vorschnelle Beurteilung ist Kaczynskis Etikettierung als Anarchist bzw. »Anarchoprimitivist«, die in Kenntnis seines politischen Horizonts unsinnig ist, jedoch seit Beginn der medialen Berichterstattung beharrlich fortgeschrieben wird. Die Sachlage ist – wie immer – um einiges komplizierter. In seinen nachträglichen Ergänzungen zu ISAIF stellte der Autor 2016 klar: »Ich habe [mich] 1995 als ›anarchistisch‹ beschrieben, weil ich es für vorteilhaft hielt, über eine bekannte politische Ausrichtung zu verfügen. Zu dieser Zeit wußte ich sehr wenig über Anarchismus. Seither habe ich gelernt, daß Anarchisten […] nichts weiter sind als eine Bande hoffnungslos unwirksamer Stümper und Träumer, ohne Nutzen für irgendeinen Zweck. Selbstverständlich weise ich heute jede Einstufung als Anarchist zurück.«

Gleichwohl waren Kaczynskis Anklagen katastrophischer Entwicklungen der industriellen Gesellschaft naturgemäß von einer Frontstellung gegen den politisch-industriell-medialen Komplex geprägt – was ein oberflächlicher Betrachter reflexhaft links einsortieren muß. Tatsächlich war aber die politische Linke bevorzugtes Ziel von Hohn und Verachtung seitens des »Unabomber«, weil sie politisch zahnlos sei, sich zum Büttel der herrschenden Zustände mache und dabei noch selbstgerecht auf einem hohen moralischen Roß reite. Glänzend ist in diesem Kontext der Aufsatz »The System’s Neatest Trick«, in dem Kaczynski bereits 2002 die Funktionsweise heute in voller Blüte stehender Phänomene wie Wokeness und Identitätspolitik offenlegte.

Ähnlich, wie der postmarxistische Kulturtheoretiker Mark Fisher es ein Jahrzehnt später der »Online-Linken« diagnostizieren sollte, erblickte Kaczynski im aktivistischen Fokus auf diverse Opfergruppen und Minderheiten eine Ablenkung und Zerstreuung revolutionären Potentials, durch die »das System« letztlich sogar noch gestärkt werde. So erklärt sich auch seine 2006 gegenüber einem deutschen Briefpartner vehement vertretene Ansicht, daß Revolutionäre »sich bemühen [müßten], Linke aus der Bewegung auszuschließen. Um Linke zu verscheuchen, sollten Revolutionäre es nicht nur vermeiden, sich für Frauen, Homosexuelle oder rassische Minderheiten einzusetzen – sie sollten jeden Einsatz für derartige Themen ausdrücklich ablehnen und immer wieder betonen, daß Frauen, Homosexuelle, Minderheiten usw. sich glücklich schätzen sollten, weil unsere Gesellschaft sie besser behandelt als die meisten früheren Gesellschaften.« Im gleichen Aufwasch sprach er sich auch für eine zielgerichtete Überwindung der spalterischen Links-rechts-Divergenzen aus.

»Onkel Ted«

Auf den ersten Blick erübrigt sich der Hinweis darauf, daß Theodore Kaczynski für eine dezidiert rechte Weltsicht, oder was gemeinhin dafür gehalten wird, keinesfalls interessant oder bemerkenswert sein könne – höchstens noch als terroristische Bedrohung, für deren Bekämpfung der segensreiche Obrigkeitsstaat gerüstet zu sein habe. Dieser Standpunkt läßt sich natürlich propagandistisch verwerten: So hat das wesentlich von Öl-, Tabak- sowie Pharmakonzernen finanzierte Heartland Institute – also geradezu ein Aushängeschild der industriellen Gesellschaft – bereits vor zehn Jahren US-weit elektronische Werbeplakate geschaltet, auf denen Konterfeis von Charles Manson, Fidel Castro und eben Kaczynski die rhetorische Frage stellten: »Ich glaube immer noch an die Klimaerwärmung – Sie auch?«

Doch natürlich reicht es nicht, es sich derart einfach zu machen. In undogmatisch-rechten Online-Diskussionszirkeln brachte das rapide Abklingen disruptiver Energie nach der Trump-Wahl 2016 eine Wendung hin zur Apokalyptik – nachdem radikale Veränderungen ausblieben, sollte der allein schon statistisch absehbare Zusammenbruch endlich die Karten neu mischen.

Mit dem Kieferbaum-Emoji als Erkennungszeichen und dem berüchtigten »World3«-Ressourcengraph aus den Grenzen des Wachstums des Club of Rome als argumentativer Munition zogen diese Collapsitarians primär bei Twitter aus, um selbstherrlichen Hipstern und grünen Bourgeois klarzumachen, daß auch die Verwendung kompostierbarer Trinkhalme in ihren Starbucks-Bechern das multimorbide System nicht ewig abfedern könne (hierzu extrem instruktiv John »Borzoi« Chapman (2021): »Pine and Graph. A Collapse Story«; in: ders.: Cultured Grugs. Dispatches From America in Collapse, Quakertown (Antelope Hill), S. 210–219). Zu ihren Inspirationen zählten u.a. Kaczynski, der finnische Umweltschützer Pentti Linkola sowie die spezifisch amerikanische Umweltschutztradition von Madison Grant über D.H. Lawrence bis hin zu Edward Abbey, dem Stichwortgeber von Earth First! (welche Organisation laut Kaczynski wiederum beispielhaft für die linke Kaperung und Zähmung revolutionären Potentials sei).

Ein Nachleben?

Die seltsame Dialektik reicht so weit, daß nicht nur Rechts wie Links Anknüpfungspunkte in Kaczynskis Gesellschaftskritik finden (können), sondern sogar Galionsfiguren des ihm so verhaßten technokapitalistischen Molochs – so nannte ihn der letztlich erfolglose republikanische Senatorenkandidat für Arizona Blake Masters, ein Protegé des kontroversen IT-Investorengiganten Peter Thiel, im März 2022 als einen unterschätzten subversiven Denker, der mehr Aufmerksamkeit verdient habe. Wieviel an dieser scheinbar paradoxen Erkenntnis bloßer Provokation geschuldet sein mag, muß indes dahinstehen.

Andere systembegünstigte Beobachter sehen das gewachsene Interesse an ISAIF hingegen als große Gefahr. Offenbar unter dem Eindruck in sozialen Medien verbreiteter »Terrorwave«-Meme wird bestürzt attestiert, daß Kaczynskis Schriften heute nicht etwa unter Umweltschutzaktivisten, sondern auf »Rechtsaußen-Websites« diskutiert würden, die »dem modernen Umweltschutz allgemein extrem feindselig« gegenüberstünden. Das ist allerdings nur allzu verständlich in einer Umgebung, in der sich »moderner Umweltschutz« in Emissionshandel und Greenwashing erschöpft.

Im Gegensatz zu unseren heutigen Kulturpessimisten, die ihr andressiertes Konsumverhalten zu durchschauen vorgeben und es dennoch ganz »ironisch« weiterbetreiben, kann man dem »Waldschrat« und »Incel« Kaczynski immerhin keine Heuchelei vorwerfen. Macht ihn dies zu einem Vorbild, gar einem Helden? Wohl kaum. »Onkel Ted« ist eine zutiefst tragische, einsame Figur, sein ganzes Leben lang im Spannungsfeld zwischen persönlichen Zwängen, sozialer Entfremdung und zivilisatorischen Zumutungen gefangen. Diese niederschmetternde Lage hat ihn, wollte man ihn partout politisch einordnen, zu einem radikalen Libertären gemacht, insoweit er vor Aufnahme seiner Bombenkampagne von Menschen und der Gesellschaft wortwörtlich im Grunde nur in Ruhe gelassen werden wollte und in der Folge zu einem verkannten Theoretiker der menschlichen Selbstbefreiung von technokapitalistischer (Selbst-)Entfremdung wurde.

Daß Kaczynskis Not in Verbindung mit seiner extremen Hochbegabung ein beeindruckendes Gedankengebäude geschaffen hat, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Es könnte gut sein, daß der rechte Hang zur Heroisierung scheinbarer Bundesgenossen uns blind macht für die wahre, existentielle Eindringlichkeit ihres Werks und so mehr zum Nachäffen als Nachdenken anregt, ähnlich wie die politische Gegenseite die inhaltliche Auseinandersetzung mit ISAIF und den übrigen Schriften Kaczynskis ein Vierteljahrhundert lang verweigert und den Autor schlicht als geisteskrank abgetan hat, wie man in Lutz Dammbecks berühmter Dokumentation Das Netz von 2004 nachvollziehen kann. Vielleicht sollten wir es hin und wieder halten wie der vor knapp zwei Jahren tragisch verstorbene US-Kabarettist Trevor Moore: »Wenn meine Frau mich fragt, woran ich gerade denke, dann sage ich immer: ›Nichts.‹ Aber meistens ist es Ted Kaczynski.«

 

Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte und angepaßte Fassung des Artikels »›Unzufriedenheit allein schafft keine Revolution‹« aus der Kehre 11. Autor: Nils Wegner

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Die Kehre ist eine Zeitschrift, die die Ökologie aus einer grundsätzlichen Perspektive betrachtet. Jedes Jahr erscheinen vier Ausgaben, die mal mehr, mal weniger thematisch gebunden sind.

Ein Kommentar

  1. August Haußleiter 15. Juni 2023 um 4:38 - Antworten

    Als sein Manifest veröffentliche wurde, hat der Unabomber die Attentate auf linksintellektuelle Technologen (Futurologen) sofort aufgeben. Der Uanbomber war durchweg konservativ und griff die technikgläubige Gesellschaft und ihre linke Ideologie an :
    Siehe Unabomber-Manifest

    m.E. viel zu konstruiert . Wir hatten in Deutschland 1979 schon das Grüne Manifest von der GAZ (die spätere ÖDP, das konservative Gegengewicht zu den linken Grünen).
    Das Unabomber Manifest ist daher bemerkenswert, da die heutigen Grünen, durchweg Linksradikale und Maoisten sind, die überhaupt nichts mit Ökologie am Hut haben.
    Ökologie geht nur von Rechts !
    Wir haben heute in unserer technizistischen Gesellschaft (oder militärisch – industrieller Komplex u.a. Bezeichnungen) mit den Auswirkungen von Chemtrails / Haarp zu tun, was einer meteorologischen Kriegsführung gleich kommt. Ebenso Korona, wo gleich am Anfang klar war, daß diese Viren aus Genlaboren stammen. Siehe auch die Masseneinwanderungen, deren Ziel nicht nur die Auslöschung der Weißen / Weisen bedeutet, sondern diese Mischrassen sollen ja auch die neue Bevölkerung der großen Euro-Citys sein, die schon lange in Planung sind.
    Der Unabomber ist aus dieser Sicht kein Terrorist, sondern eher als Aktivist anzusehen.

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