Wir denken an Saruman, wir denken an die Ents: Der Gegensatz von Natur und Technik spielt auch in der Fantasy-Welt von J.R.R. Tolkien eine große Rolle. Das Werk des englischen Autors ist seinerseits unzweifelhaft von seinem katholischen Glauben geprägt. Im Zuge der Veröffentlichung der aktuellen Kehre-Ausgabe mit dem Titel »Christentum und Ökologie« haben wir den Tolkien-Kenner und Althistoriker Dr. David Engels (hier sein aktuelles Buch bestellen!) zur Verbindung zwischen Ökologie und Christentum in Mittelerde befragt.
»Eru war da, der Eine (…)« – die Schöpfungsgeschichte im Silmarillion macht den Lesern gleich klar, woran er ist: nämlich am Einen Gott, der alles erschafft und dessen Kinder die Menschen und Elben sind. Können Nicht-Christen Tolkien gleich wieder weglegen?
Zunächst: Die Erzählung vom einen Schöpfergott ist ja beileibe alles andere als ausschließlich christlich, sondern findet sich in so ziemlich allen anderen Religionen, auch den paganen. Doch selbst, wenn wir von dieser Passage abstrahieren und ganz allgemein an die zutiefst christliche Natur von Tolkiens Sagenwelt denken, die ja auch von ihm selbst über und über in seinen Briefen betont wird, geht doch daraus nichts von einem »weglegen« hervor, denn dann müßten Nicht-Christen so ziemlich die gesamte europäische Literatur weglegen, und die Christen hätten sich nie mit der Literatur der Antike beschäftigen dürfen. Nicht nur das Christentum, sondern eigentlich alle Religionen gehen davon aus, daß sich Spuren der absoluten Wahrheit räumlich wie zeitlich auch außerhalb des eigenen Wirkungsbereichs finden – die (stoische) Theorie vom »Logos spermatikos« –; und davon abgesehen sind das Silmarillion oder der Herr der Ringe ja nun alles andere als dogmatische Traktate, die nur innerhalb eines bestimmten Glaubenssystems von Interesse sind, sondern echte Kunstwerke mit tiefen Aussagen über die letzten Dinge. Ob man nun Christ ist oder nicht, bleibt die Musik Bachs doch nicht weniger wahr, schön und gut und ist als solche jedem Menschen guten Willens instinktiv verständlich und zugänglich.
Deutschland hat Wirtschaftsinteressen in Aserbaidschan, Israel taktiert geschickt mit Saudi-Arabien, die USA und China belauern sich: In der Geopolitik darf es darum kein Schwarz und Weiß geben, kein Gut und Böse, weil alles mehrere Dimensionen hat, Aspekte, Motivationen, die es zu durchdringen gilt. Tolkien läßt sich nicht so lesen – oder machen wir da etwas falsch?
Ich weiß nicht, wer die Mär von Tolkiens angeblicher »Schwarz-Weiß«-Malerei in die Welt gesetzt hat; meist lese ich sie in linken Diffamationen seines Werks, denen in ihrem Atheismus und Relativismus die Annahme von der Absolutheit moralischer Prozesse natürlich ein Dorn im Auge sein muß, da sie dem Gedanken vom tagtäglichen »Aushandeln« des menschlichen Zusammenlebens völlig entgegengesetzt ist. Ich selbst sehe bei Tolkien jedenfalls eine enorme moralische Komplexität und Mehrdimensionalität am Werk: Kein einziger Charakter ist »ganz« gut oder »ganz« böse (bis hin zu den Valar). Alle ringen mit ihrer Fehlbarkeit und verfallen in verschiedenem Grade der Versuchung; doch freilich sind die Leitsterne »gut« und »böse« absolut. Zudem scheint mir, weder Hobbit noch Herr der Ringe erheben einen Anspruch, als Traktate in Geopolitik gelesen zu werden. Falls man hier aber tatsächlich nach politischen Handlungsanweisungen sucht, dürfte man wohl tatsächlich in den politischen Konflikten zwischen den verschiedenen elbischen Reichen des Ersten, der maritimen Strategie Numenors im Zweiten oder der Bündnispolitik Gondors im Dritten Zeitalter durchaus interessante Einblicke darin finden, daß auch und gerade Tolkien der augustinische Konflikt zwischen der (moralischen) Logik der »civitas caelestis« und der (politischen) Logik der »civitas terrena« vertraut war und in seiner ganzen Komplexität abgebildet wird.
»Evil cannot create anything new, they can only corrupt and ruin what good forces have invented or made«, dieses Zitat fand man tausendfach und in allen Sprachen der Welt unter dem ersten Trailer zu Amazons Serie Die Ringe der Macht. Unabhängig davon, ob dies nun ein tatsächliches Zitat Tolkiens war oder nicht, schien sich der Schöpfer des Herrn der Ringe in dieser Aussage gar nicht so sicher gewesen zu sein. Gut ablesen läßt sich das an der Frage, wie die bösen Kreaturen der Orks »erschaffen« wurden –zu Beginn schloß Tolkien nämlich aus, daß die Orks vom Bösen erschaffen worden seien, stattdessen handle es sich um korrumpierte und gequälte Elben. Später – im Herr der Ringe – scheinen die Orks ein Volk zu sein wie die Menschen, Zwerge und Elben auch und über eine eigene Kultur zu verfügen. Man denke nur an die Szenen im Turm von Cirith Ungol, wo Einblicke in das Ranggefüge der Orks gewährt werden. Wie ist es denn nun, und welche Konsequenzen hätte die eine wie die andere Sicht?
Soweit ich weiß, hat Tolkien hier selbst keine definitive Antwort gewußt. Das Problem, dem er sich ausgesetzt hat, liegt darin begründet, daß das Böse – in diesem Fall Morgoth, der »Lucifer« Mittelerdes – einerseits nur nachäffen und pervertieren, aber nichts schaffen kann, das mit einer eigenen Seele ausgestattet ist, da diese eben immer nur von Gott, also Iluvatar kommt; daher der Gedanke, die Orks seien gefolterte Elben, die im Laufe undenklicher Zeiten schließlich zu einer neuen Rasse »mutiert« seien. Andererseits aber (und das wird oft übersehen) kristallisierte sich für Tolkien allmählich die Einsicht heraus, daß die Elben, die ja zunehmend zum Gegenentwurf des sterblichen Menschen wurden, nicht nur über eine relative, sondern absolute Unsterblichkeit verfügen müssen, also nach ihrem Tod (durch Krankheit oder Totschlag) in einem neuen Körper inkarniert werden und allmählich sogar die Erinnerung an ihr früheres Sein zurückgewinnen; daher ja die unglaubliche Lebensmüdigkeit, die sie früher oder später befällt und symmetrisch mit der Lebensgier der Menschen kontrastiert. Dies warf dann aber das Problem auf, was mit den Orks nach ihrem Tod geschah, falls sie tatsächlich verderbte Elben seien; umso mehr, als Tolkien überzeugt war, daß jedes vernunftbegabte lebende Wesen über eine gewisse Willensfreiheit verfügt, trotz verschiedener Anlagen also nie »ganz und gar« böse sein kann. Übrigens stellt sich das selbe Problem auch bei den Trollen und den Drachen.
Kennt die Natur eigentlich gut und böse? Und wenn nein: Verkennt das Christentum diesen Aspekt der Natur und des Lebens?
Die »Natur« (wenn wir darunter die Umwelt ohne den Menschen begreifen) kennt in der Tat eine ganze Reihe von Sachen nicht, die wir als Menschen nicht missen möchten: Auch Chopins Nocturnes, die Bergpredigt oder mathematische Gleichungen sind selten in freier Wildbahn anzutreffen; trotzdem aber über sie zu reflektieren würde ich nicht als »Verkennung« irgendwelcher Naturgesetze (oder ihres Fehlens) ansehen. Ohne nun die Frage nach der Theodizee aufrollen zu wollen – die ja nun ebenfalls in allen Religionen, nicht nur dem Christentum, extensiv diskutiert wird –, kann man doch sagen, daß sich »Gut« und »Böse« selbstverständlich in der Natur manifestieren, da der Mensch (zweifellos ein Naturwesen) diesen Unterschied seit Jahrtausenden erleidet und bespricht; er wird also durchaus »in der Natur« ausgetragen. Die Erkenntnis des Unterschieds zwischen Gut und Böse und somit die Möglichkeit zum entsprechenden Handeln ist aber eine Frucht der Selbstreflexion und der Willensfreiheit, die nach unserem gegenwärtigen Wissensstand nur dem Menschen wirklich zugänglich ist; egal, was zweifelhafte neuronale Untersuchungen uns in ihrem kindischen Materialismus weismachen wollen. Falls wir nun auf Tolkien abzielen wollen, so spielt die Frage nach der Natur des Bösen eine fundamentale Rolle in seinem Werk, und er gibt hierauf eine klassische, nicht nur christliche Antwort: Böse ist es, sich der Illusion der Eigenmächtigkeit hinzugeben und die vielfältigen Beschränkungen, die uns wesenhaft auszeichnen, nicht zu akzeptieren. Anders ausgedrückt: Wer sich sein »Heil« anmaßend selbst schaffen will, anstatt es in der Anerkennung seiner eigenen Grenzen und der liebenden Annäherung an die Gottheit zu suchen, verfällt dem, was die Griechen »Hybris« nannten und was sich im »non serviam« des Satans spiegelt – und unweigerlich früher oder später in die Katastrophe führt, sei es bei Morgoth, Sauron, Saruman, Fëanor oder den Numenorern.
Wie steht es um die positiven Charaktere der Bücher – etwa Samweis Gamdschie?
Sam wird, vor allem aufgrund der Filme, im Vergleich zu Frodo völlig überbewertet. Tolkien hat ihn als einen soliden, nicht allzu intelligenten Hobbit angelegt, der aus eigener Kraft nicht zu großer abstrakter oder moralischer Reflexion fähig ist; sein Kampf gegen den Ring und das Böse wird daher auch nicht, wie bei Frodo, aus einem inneren Bekenntnis zu einem abstrakten, transzendenten Guten geleitet, sondern eher aufgrund seiner Treue seinem Herrn gegenüber entschieden, der im Buch ja auch nahezu eine Generation älter ist als er. Sams Heroismus ist »abgeleitet« und entstammt der Liebe zu Frodo; Frodos Heroismus aber ist unmittelbar und entstammt seiner zunehmend auch bewußt verstandenen Liebe zum Guten an sich. Der eigentliche Held der Geschichte, der in seinem monatelangen Kreuzweg schrecklichste Versuchungen durchmachen muß, welchen Sam schon wenige Sekunden, nachdem er den Ring aufnimmt, fast verfällt, ist Frodo, dessen Imitatio Christi von Tolkien ganz bewußt als solche gestaltet wird, vom Verrat Judas bzw. Gollums und der Entblößung und Geißelung über das »mich dürstet« bis hin zur schlaflosen Nacht vor dem Ende – und es ist kein Zufall, daß die Zerstörung des Rings auf einen 25. März datiert wird, das Datum nicht nur von Mariae Verkündigung, sondern wohl auch (in der alten Kirche) der Kreuzigung. Auch, daß Frodo nach vollbrachter Tat nur noch kurz auf Erden weilt, ist kein Zufall. Freilich – der grundlegende Unterschied zwischen Frodo und Christus besteht im letztlichen Scheitern des Ersteren, der im letzten, entscheidenden Augenblick dem Bösen verfällt und nur durch die »Eukatastrophe« gerettet wird: Dem unerwarteten Eingreifen Gollums, das freilich nur dadurch möglich war, daß Frodo (bezeichnenderweise im Gegensatz zu Sam) an das Gute in Gollum glaubte und ihn nicht töten will. Freilich ist auch Sam gereift, aber seine eigentliche, gewissermaßen »heilsgeschichtliche« Rolle wird ihm wohl nur durch die eigene Tätigkeit am »Roten Buch« nach Abschluß der Abenteuer deutlich, so daß auch er letzten Endes Mittelerde verlassen darf – und wohl auch muß.
David Engels hat zum 50. Todestag J.R.R. Tolkiens den Sammelband Aurë entuluva! herausgegeben, der hier bei Jungeuropa erhältlich ist. Die neue Ausgabe der Kehre ist hier erhältlich: